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Gedankensprung

 ·  ☕ 6 Minuten zum Lesen  ·  ✍️ dark*

Es ist wieder einmal früh morgens (5:02 h MEZ) und in Ermangelung einer sinnvolleren Tätigkeit mache ich mir wieder einmal intensiv Gedanken darüber, wie es wohl sein mag, von einem zwölfstöckigen Gebäude in den Tod zu springen.

Leider hat mich die Schule überhaupt nicht interessiert, so dass ich jetzt nicht in der Lage bin, die genaue Fallzeit zu berechnen. Hätte ich damals geahnt, wofür der Unterricht einmal werde nützlich sein können, hätte ich sicherlich mehr Interesse gezeigt. Ich kann daher nur schätzen und vermute, dass es etwa zwei bis drei Sekunden dauern wird, bis man unten angekommen ist. Sollte ich damit falsch liegen, lasse ich mich gerne eines Besseren belehren.

So viel dazu, gehen wir nun in medias res. Ich stelle mir also vor, wie ich mich mühsam die 12 Stockwerke hoch schleppe. Warum ich zu Fuß gehe? Nun, zum einen denke ich mir, dass ich vielleicht so kurz vor dem Ende die absolute körperliche Erschöpfung als angenehm empfinden werde, zum anderen ist bei meinem Glück vermutlich gerade der Lift defekt. Atemlos oben angekommen werde ich mich wohl hinsetzen, eine Zigarette rauchen und meinen Lungen den Rest geben. Aber was kümmert mich jetzt noch meine Gesundheit? Ich bin nie besonders sorgsam mit ihr umgegangen, warum sollte ich jetzt, zehn Minuten vor Schluss, damit anfangen? Nachdem ich mich von meinem Hustenanfall erholt habe, wandere ich über das kiesbedeckte Flachdach auf die Umrandung zu. Meine Knie sind butterweich und mein ganzer Körper zittert vor Aufregung, dass ich kaum laufen kann. Schließlich sterbe ich das erste Mal in meinem Leben, da wird man ja wohl nervös sein dürfen. Hektisch zuende ich mir mit zitternden Händen eine weitere Zigarette an, mittlerweile am Rand des Daches stehend. Ich blicke auf die Strasse herab, mir wird schwindelig, da ich noch nie schwindelfrei war und außerdem Höhenangst habe. Ich trete wieder einen Schritt zurück und atme noch einmal tief durch. “Kein Problem” sage ich mir “du schaffst das schon!” Ein bisschen Aufmunterung kann ich jetzt gut gebrauchen. Während ich das letzte Mal den Rauch meiner letzten Zigarette inhaliere frage ich mich ein letztes Mal, ob es auch wirklich das ist, was ich will, und beantworte mir diese Frage ein letztes Mal mit “ja”. Nun gut, dann soll es wohl so sein. Gehen wir’s an…

Ich trete einen Schritt vor, stehe jetzt mit den Füssen auf der Umrandung des Daches, wenige Zentimeter vom langersehnten Tod entfernt, und schaue runter. Oh nein, lieber doch nicht runterschauen, mir wird schwindelig. Lieber geradeaus schauen, über die Skyline der Stadt, die im Dunkel der Nacht nur spärlich beleuchtet ist. Warum ich nachts sterben möchte? Ich mag das Tageslicht nicht, es ist zu hell. Außerdem ist jetzt nicht so viel los. Ich möchte nicht einer alten Oma vor die Füße fallen, die dadurch womöglich einen Herzinfarkt oder ähnliches erleidet. Ich weiß ja schließlich nicht, ob sie auch sterben will. Und im übrigen habe ich in den letzten Wochen und Monaten meines Dahinvegetierens schon nicht tagsüber das Haus verlassen, solange es sich vermeiden ließ, warum also sollte ich es ausgerechnet zum Sterben tun? Nein nein, im Dunkel der Nacht ist es ok. Diese hässliche Stadt sieht auch schöner aus bei Nacht, womit diese Stadt und ich etwas gemeinsam hätten. Aber das spielt ja jetzt eigentlich keine Rolle mehr. Wer weiß, wie ich gleich aussehen werde, wenn ich auf den Asphalt geklatscht bin. Aber auch das spielt keine Rolle mehr, zumindest nicht für mich, ich bin ja dann tot. Nun ja, ich atme noch einmal tief durch und…

Wie mache ich es jetzt eigentlich? Darüber habe ich mir vorher gar keine Gedanken gemacht. Lasse ich mich einfach fallen, gehe ich einen Schritt nach vorne, so als würde ich irgendwohin gehen wollen, oder springe ich? Nein, springen nicht, das sähe wahrscheinlich albern aus. Hm, einen Schritt nach vorne machen? Es könnte passieren, dass ich mit dem verbleibenden Fuß an der Umrandung des Daches hängen bleibe und dann wäre ich in einer äußerst ungünstigen Lage, dort oben, im 12. Stockwerk, mit dem Kopf nach unten hängend. Also bleibt nur noch eines: Einfach nach vorne fallen lassen. Ja genau, so mache ich es, richtig theatralisch die Arme auseinander nehmen und nach vorne fallen lassen. Das sieht bestimmt gut aus und entspricht einem würdigen Abgang. Also gut, ein letztes Mal die Klamotten zurecht ziehen (ich habe extra meine Lieblings-Klamotten für meinen Lieblings-Tag angezogen), ein letztes Mal durch die Haare, damit sie ordentlich sitzen, ein letztes Mal tief durchatmen, einen halben Schritt vor, so dass die Schuhe zur Hälfte bereits in der Luft hängen. Jetzt muss ich nur noch das Gewicht nach vorne verlagern … nur noch … Ich nehme die Arme weit auseinander, so wie Jesus damals am Kreuz hing (ok, der Vergleich hinkt etwas, aber so kann sich jeder vorstellen was ich meine) und gehe langsam, ganz langsam, in Zeitlupentempo mit dem Oberkörper nach vorne. Noch wenige Millimeter, dann habe ich es geschafft, dann gibt es kein Zurück mehr, dann bin ich frei…

Ich hab’s geschafft! Ich habe das Gleichgewicht verloren und falle. Es ist wunderschön zu fallen, einfach herrlich. Nur leider kann ich das Gefühl nicht so richtig genießen, weil mir auf einmal tausend Sachen durch den Kopf schießen. Ich habe meine Brieftasche im Auto vergessen! Man wird mich nicht so ohne weiteres identifizieren können. Verdammt! Warum ist mir das nicht früher eingefallen? Na ja egal, das ist ja nicht mehr mein Problem. Ich habe ganz andere Probleme im Moment, die letzten Probleme. Mein Leben läuft noch einmal vor meinem geistigen Auge ab, in Kurzform. Die brutalsten unangenehmen Dinge fallen mir alle gleichzeitig ein. Ich will jetzt hier nicht näher auf Einzelheiten eingehen, kann aber nur bestätigen, dass meine Entscheidung zu springen die einzig richtige war. Auf der Hälfte des Weges brannte noch Licht, es muss etwa in der siebten oder achten Etage gewesen sein. Hoffentlich haben die mich nicht vorbeifliegen sehen, ich möchte ja niemanden unnötig erschrecken um diese Uhrzeit. Es wäre immerhin möglich, dass dort gerade ein Kind vor seiner Mutter steht und ihr von seinem gerade geträumten Alptraum erzählt. Und ein Suizidler, der in diesem Augenblick am Fenster vorbeisegelt, würde sich sicherlich nicht besonders positiv auf die Psyche des Kindes auswirken. Aber darüber kann ich mir jetzt keine Gedanken mehr machen, ich bin gleich da.

Mir fallen noch die letzten Monate im Chat ein. Ich glaube dort einige sehr nette Leute kennen gelernt zu haben. Ob sie mir fehlen werden, die Nächte im Chat? Ach nein, wie denn, ich bin ja gleich tot. Ich werde höchstwahrscheinlich nichts mehr vermissen, davon gehe ich jedenfalls aus. Sollte es aber doch der Fall sein, dass es so etwas wie ein “Leben im Tod” gibt, stehen meine Chancen recht gut, dass ich den einen oder anderen von ihnen in absehbarer Zeit wieder treffen werde. Es ist nur fraglich, ob sich dann noch Gesprächsstoff bietet. Das vorherrschende Thema des Chats hat sich dann ja erledigt. Aber da ich nicht glaube, dass es für mich noch ein “gleich” geben wird, brauche ich mir auch hierüber nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Er zerbricht gleich ohnehin auf dem Asphalt. In Sekundenbruchteilen stellt sich mir noch die Frage, ob ich auch wirklich an alles gedacht habe. Wird wohl so sein. Wenn nicht, kann ich es jetzt eh nicht mehr ändern. Dann müssen sie eben sehen, wie sie alles regeln werden, meine Erben. Sie werden wohl sauer sein, da sie nicht gefragt worden sind, ob sie schon Erben werden wollen, aber ich bin ja auch nicht gefragt worden, ob ich leben möchte, also was soll’s.

Oh Mann! Jetzt fällt mir gerade etwas ein. Ich wollte doch jetzt noch gar nicht sterben, noch nicht … Ich wollte doch erst noch … PATSCH!

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